Familienungleichheit: Zum Wandel des Bildungsgradienten in der Familiengründung und -auflösung
Über den Wandel familialer und partnerschaftlicher Lebensformen wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert. Hintergrund sind seit Mitte der 1960er Jahre zu beobachtende Veränderungen, in deren Verlauf die Verbreitung der klassischen 2-Eltern-Familie mit Kindern stetig abnimmt und sich von diesem Muster abweichende Lebensformen immer weiter ausbreiten. Abzulesen ist dies unter anderem an der zurückgehenden Heiratsneigung, der abnehmenden Ehestabilität, dem anhaltend niedrigen Geburtenniveau, der steigenden Anzahl unverheiratet zusammenlebender Paare sowie dem steigenden Anteil nichtehelicher Kinder. Diese familialen Entwicklungen werden unter dem Begriff „Second Demographic Transition“ zusammengefasst.
Hintergrund
Die Familienstrukturen haben bekanntermaßen einen starken sozioökonomischen Gradienten und variieren mit der Bildung. Ungeachtet der zahlreichen vorliegenden Untersuchungen zum Zusammenhang der Bildungsbeteiligung von Frauen und der Familiengründung, wissen wir für Deutschland sehr wenig über die Entwicklung des sozioökonomischen Gradienten über die Zeit. Da mittlerweile die Bildungsbeteiligung der Frauen die der Männer sogar übertrifft, ist davon auszugehen, dass sich auch die Beziehung zwischen Bildung und Familiengründung von Frauen verändert hat. Für Männer ist über die Beziehung zwischen Bildung und Familiengründung und deren Entwicklung noch weniger bekannt, wobei davon auszugehen ist, dass sie sich von der der Frauen unterscheidet. In dem Projekt sollte daher eine systematische Beschreibung des Wandels der Familienungleichheit von Männern und Frauen vorgenommen werden.
Darüber hinaus sollten drei Erklärungsansätze für die Entstehung des sozioökonomischen Gradienten in der Familiengründung und -auflösung hinsichtlich der Erklärungskraft bewertet werden. In der bevölkerungswissenschaftlichen Literatur zum Zweiten Demographischen Übergang wird der Wandel der Heirats- und Familiengründungsmuster basierend auf der Annahme eines durch den postmateriellen Wertewandel induzierten Verhaltenswandels erklärt (Lesthaeghe 2010, 2014). Ähnlich erklärt die modernisierungstheoretische Perspektive in der Soziologie die zunehmende Verbreitung nichtehelicher Lebensgemeinschaften durch eine Erosion der Institution Ehe und damit einhergehenden neuen Möglichkeiten der privaten Lebensführung (Cherlin 2004). Beide Ansätze folgen der Perspektive einer fortgeschrittenen Modernisierung, wonach in den 1960er und 1970er Jahren das „golden age of marriage“ (Festy 1980) und die Dominanz der modernen Kernfamilie endeten und sich in Folge weniger institutionell bindende Verhaltensmuster im Bereich Familie und Partnerschaft herausgebildet haben. Typischerweise wird angenommen, dass der Wandel vor allem von den höher Gebildeten unter diesen, insbesondere von den Frauen, vorangetrieben wurde (Konietzka/Kreyenfeld 2017).
Auch in der klassischen Familienökonomie gelten die zunehmende Bildung und die damit wachsende ökonomische Unabhängigkeit der Frauen als entscheidend für den Rückgang der Heirats- und Geburtenraten (Becker 1974, 1993). Hier liegt die Vorstellung zugrunde, dass Heirat und Haushaltsgründung zusammenfallen, Kind und Beruf nicht vereinbar und eine Ehe wesentlich darauf angelegt ist, Kinder aufzuziehen. Unter der Annahme, dass Spezialisierung Effizienzgewinne bringt, beziehungsweise Frauen biologische Vorteile beim Großziehen von Kindern haben, wird eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als effizienter gegenüber einer partnerschaftlichen betrachtet. Die zunehmende Arbeitsmarktbeteiligung und ökonomische Unabhängigkeit der Frau lassen jedoch Zweifel an der klassischen familienökonomischen Theorie aufkommen, die in einer Zeit entstand, in der das Modell der geschlechtlichen Arbeitsteilung die Regel war und Frauen weniger am Arbeitsmarkt partizipierten.
Nach den Überlegungen von Valerie Oppenheimer zum „marriage timing“ können Familien durch die gestiegene Frauenerwerbsbeteiligung ökonomische Unsicherheiten reduzieren und das Wohlstandsniveau erhöhen (Oppenheimer 1982, 2000). Nach Oppenheimer haben die zunehmend verschlechterten ökonomischen Chancen, vor allem der gering qualifizierten jungen Männer, deren Heiratsfähigkeit („marriageability“) reduziert, da häufig die ökonomischen Ressourcen und Perspektiven fehlen, einen Haushalt zu gründen und zu heiraten. Da bildungshomogame Partnerschaften weit verbreitet sind, können die Ressourcen der Partnerinnen die ökonomische Lage dieser Haushalte nicht wesentlich verbessern. Unabhängig vom möglichen Heiratswunsch geringer qualifizierter Frauen und Männer mangelt es ihnen häufig an den notwendigen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund wird in den USA eine Diskussion um steigende Nichtehelichenquoten und die hohe Abhängigkeit gering gebildeter und unverheirateter Mütter von sozialstaatlichen Transfers geführt (Konietzka/Kreyenfeld 2017).
Von theoretischer Seite wird somit die Frage, wie die zunehmende Bildung mit der Veränderung der Familienformen zusammenhängt, unterschiedlich beantwortet (Konietzka/Kreyenfeld 2017). Sind weniger qualifizierte Frauen und Männer ökonomisch immer weniger in der Lage, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen? Reduzieren die besseren Arbeitsmarktchancen der Frauen die Attraktivität der Ehe? Oder ist das Gegenteil der Fall und die guten Erwerbsund Einkommensmöglichkeiten höher qualifizierter Frauen stärken die ökonomische Basis der Familie mit der Folge, dass gerade diese die Ehe präferieren, um familiale Investitionen besser absichern zu können? Betrachtungen von Zeitreihen zur Entwicklung des Zusammenhangs von Bildung und Familienformen erlauben Rückschlüsse auf diese Fragen.
Datengrundlage sind die Daten des Scientific Use Files des Mikrozensus, welche einen Zeitraum von 40 Jahren abdecken. Anhand neun Wellen (1967, 1980, 1985, 1991, 1995, 2000, 2005, 2010 und 2014) wurden Trendanalysen separat für Männer und Frauen durchgeführt. Berücksichtigt wurden nur Personen in Privathaushalten am Hauptwohnsitz mit deutscher Staatsangehörigkeit im Alter von 18-59 Jahren. Die Stichprobe belief sich auf 1,5 Mio. Personen in Westdeutschland.
Ergebnisse
Hoch- und niedrig gebildete Männer unterscheiden sich zunehmend im Familienstand. Der Bildungsgradient nimmt im Anteil der Alleinstehenden, Verheirateten und Geschiedenen zu, wobei niedrig gebildete Männer zunehmend „bleiben“. Diese Ergebnisse stützen die These des „marriageable men“, wonach Männer in niedrigerer Bildung mit schlechten langfristigen wirtschaftlichen Perspektiven zunehmend unattraktive Partner sind.
Bei verheirateten Frauen hingegen nimmt der negative Bildungsgradient mit der Zeit ab. Frauen mit einem niedrigen Bildungsniveau bleiben zunehmend allein oder geschieden. Insbesondere bei Scheidungen ist ein zunehmend negativer Bildungsgradient zu beobachten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Gewinne aus der Spezialisierung auf die Ehe zunehmend abnehmen. Darüber hinaus sind sie Belege für die These, dass sinkende wirtschaftliche und soziale Kosten zunehmend die Möglichkeit der Scheidung für die unteren sozialen Schichten eröffnen, und dass die Hochschulbildung die finanziellen, kulturellen, sozialen und kognitiven Ressourcen im Zusammenhang mit einer höheren Ehestabilität verbessert. Darüber hinaus stehen die Ergebnisse auch im Einklang mit geschlechterspezifischen Theorien, nach denen hohe Scheidungsraten ein temporäres Übergangsphänomen sind.
Die Ergebnisse zum Familienstand spiegeln sich auch in den Formen der Partnerschaft wider. Bei alleinlebenden Frauen gleicht sich der positive Bildungsgradient zunehmend aus, während der negative Bildungsgradient bei Männern zunimmt. In nichtehelichen Partnerschaften, die in allen Bildungsgruppen zunehmen, ist der Bildungsgradient weitgehend konstant. Diese Ergebnisse widersprechen vorliegenden Erkenntnissen in der Literatur, wonach die Vorreiterrolle der Hochgebildeten in nichtehelichen Partnerschaften nicht mehr zu finden sei. Angesichts der Veränderungen im Bildungsgradienten des Familienstandes deuten unsere Ergebnisse auf eine veränderte Funktion von Zusammenleben und Ehe hin. Es ist davon auszugehen, dass das Zusammenleben im Lebenslauf eine immer andere Bedeutung hat: So dürfte nicht nur das voreheliche Zusammenleben (Probeheirat) zunehmen, sondern auch das Zusammenleben als dauerhafte Alternative zur Ehe und zum post-ehelichen Zusammenleben. Auf der Grundlage der Mikrozensusdaten kann diese Funktionsverschiebung nur indirekt über das Alter abgeleitet werden.
Die Trendanalysen des Mikrozensus zeigen auch, dass der Bildungsgradient in Gegenwart von Kindern bei Frauen und Männern weitgehend auf Timing-Effekte zurückzuführen ist. Im Alter von über 50 Jahren leben höher gebildete Frauen und Männer mit Kindern im Haushalt zusammen, während es in jüngeren Jahren mehr Geringqualifizierte gibt.
Hinsichtlich der Anzahl der biologischen Kinder nach Abschluss der Reproduktionsphase sehen wir keinen Bildungsgradienten für Parität eins und Parität zwei. Drei oder mehr Kinder haben einen negativen Bildungsgradienten, und für Kinderlosigkeit gibt es einen positiven Bildungsgradienten. Es ist davon auszugehen, dass der positive Gradient bei Parität 0 in Deutschland langfristig verschwinden kann, wie in den skandinavischen Ländern. Die aktuelle Steigung bestätigt die Idee der Opportunitätskosten. Sie könnte auch eine dauerhafte Folge der Verschiebung von Fruchtbarkeitswünschen auf Altersgruppen sein, in denen die Fruchtbarkeit stark abnimmt.
Der nicht vorhandene Bildungsgradient beim Übergang zum zweiten Kind entspricht dem Stand der Literatur, nach dem es bei diesem Übergang in der Regel nur wenige soziale Unterschiede gibt; zum Beispiel auch nicht nach Migrationshintergrund oder ethnischer Herkunft.
Für Frauen und Männer ist das Leben mit Kindern in nichtehelichen Partnerschaften oder ohne Partner zunehmend bildungsabhängig, das heißt unverheiratete Elternschaft wird heute häufiger von einem niedrigen Bildungsniveau begleitet. Besonders in jungen Jahren unterscheiden sich gut ausgebildete Frauen: Sie leben immer seltener in kinderlosen Familien (verheiratet ohne Kinder, im Zusammenleben ohne Kinder oder Single). Bei Männern tritt der Bildungsgradient für Familienformen mit Kindern zunehmend im hohen Lebensalter auf, während sich der Gradient für Frauen mit zunehmendem Alter abflacht.
Da sich alle familiären Prozesse im Laufe des Lebens des hochgebildeten Menschen nach hinten verschieben, kann davon ausgegangen werden, dass sich die relevanten Bildungsgradienten mit langfristigen Folgen erst im fortgeschrittenen Alter zeigen. Dabei sind die Familienformen der Frauen vom Bildungsgradienten weniger betroffen als die der Männer, bei denen der Gradient mit dem Alter zunimmt.
Implikationen für Frauen
Unsere Analysen zeigen, dass schlecht ausgebildete Frauen insgesamt relativ instabile Familienstrukturen haben. Auch für Frauen mit niedrigem Bildungsgrad hat die Belastung durch Kinder aufgrund der zunehmenden Familienstabilität zugenommen. Aus der Literatur wissen wir, dass schlecht ausgebildete Frauen mit Kindern eher von Armut betroffen sind als Frauen mit einem hohen Bildungsniveau. Ein Teil der Armut ist auf das Fehlen eines Partners zurückzuführen: Verheiratete Frauen mit Kindern leben seltener in Armut als unverheiratete Frauen. Bei den gut ausgebildeten Frauen ist zu beachten, dass ihre relative Attraktivität offensichtlich zugenommen hat. Im Vergleich zu schlecht ausgebildeten Frauen sind gebildete Frauen nicht mehr familienbedingt benachteiligt.
Implikationen für Männer
Unsere Analysen haben gezeigt, dass Männer mit niedrigem Bildungsniveau zunehmend auf dem Partnermarkt „übrig bleiben“. Bei Männern gibt es deutliche Unterschiede im risikoreichen und gesundheitsfördernden Verhalten je nach Familienstand. Beispielsweise verhalten sich Männer in Partnerschaften gesundheitsbewusster als Männer ohne Partner, wobei die Ehe eine stärkere Wirkung hat als nichteheliche Partnerschaften. Die Unterschiede im Verhalten sind nicht nur auf den Familienstand zurückzuführen, denn auch Selektionsprozesse sind am Werk: Gesundheitsbewusste Männer sind eher verpartnert als weniger gesundheitsbewusste Männer. Neuere Studien zeigen, dass ein kausaler Effekt des Familienstandes auch nach Berücksichtigung der Selektion fortbesteht. Darüber hinaus zeigen Studien zu intergenerationellen Transfers, dass Väter, die nie verheiratet oder von den Müttern ihrer Kinder getrennt waren, weniger wahrscheinlich zeitliche und finanzielle Transfers von ihren Kindern erhalten. Die Zunahme einsamer älterer Männer unter den Armen ist eine Herausforderung für die Sozialpolitik in alternden Gesellschaften.
Implikationen für Kinder
Angesichts sich verändernder Bildungs- und Familienstrukturen sind die Folgen für Kinder besonders relevant. Die Analyse der Daten der deutschen Krankenversicherung zeigt, dass Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungsgrad deutlich häufiger erkranken als Kinder aus akademischen Familien. Insbesondere Karies und Übergewicht, das heißt die Folgen ungesunder Essgewohnheiten, sind bei Kindern und Jugendlichen aus bildungsbenachteiligten Familien 2,5-mal häufiger. Auch Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, Asthma und Allergien betreffen diese Kinder häufiger. Was die Familienstrukturen betrifft, so berichten verschiedene Studien, dass Kinder, die nicht mit beiden biologischen Elternteilen aufwachsen, ein niedriges Wohlbefinden, eine schlechte Gesundheit, eine schlechtere Schulleistung und Nachteile auf dem Arbeitsmarkt haben. Die Ergebnisse werden auf familiäre Konflikte, veränderte wirtschaftliche Ressourcen und Bildungspraktiken zurückgeführt. Offen ist jedoch die Frage, ob die vorliegenden Ergebnisse kausal interpretiert werden können oder ob unbeobachtete Faktoren sowohl die Familienstruktur als auch das Ergebnis der Kinder bestimmen. Die wenigen Studien, die eine unbeobachtete Heterogenität belegen, zeigen kleinere, aber signifikante Auswirkungen der Familienstruktur und des Familienübergangs auf die Ergebnisse von Kindern. Unabhängig von der Stärke des Kausaleffekts gehen wir davon aus, dass aufgrund kumulativer Vor- und Nachteile langfristige Folgen der familiären Ungleichheit für Kinder zu erwarten sind. So beeinflusst die elterliche Familie wahrscheinlich den schulischen Werdegang und die berufliche Bildung durch verschiedene Mechanismen und setzt sich so im Leben der Kinder fort, bis sie ihre eigene Familie gründen.
Abbildung 1: Familienstand nach Geschlecht und Bildung, Westdeutschland
Abbildung 2: Kohabitierende und Alleinlebende nach Geschlecht und Bildung, Westdeutschland
Literatur
Becker, Gary S. (1993): A treatise on the family. Cambridge: Harvard University Press.
Becker, Gary S. (1974): A theory of marriage. In: Schultz, Theodore W.S. (Hrsg.): Economics of the family: Marriage, children, and human capital. Chicago: University of Chicago Press, S. 299–351.
Cherlin, Andrew J. (2004): The deinstitutionalization of american marriage. Journal of Marriage and Family, 66, 4, 848–861. doi:10.1111/j.0022-2445.2004.00058.x
Festy, Patrick (1980): On the new context of marriage in Western Europe. Population and Development Review, 6, 2, 311–315. doi:10.2307/1972733
Konietzka, Dirk/Kreyenfeld, Michaela (2017): From an alternative to a precarious family form? The changing role of education in nonmarital childbearing in Germany. Swiss Journal of Sociology, 43, 3, 611–637. doi:10.1515/sjs-2017-0030
Lesthaeghe, Ron (2014): The second demographic transition: A concise overview of its development: Table 1. Proceedings of the National Academy of Sciences, 111, 51, 18112–18115. doi:10.1073/pnas.1420441111
Lesthaeghe, Ron (2010): The unfolding story of the second demographic transition. Population and Development Review, 36, 2, 211–251. doi:10.2307/25699059
Oppenheimer, Valerie Kincade (2000): The continuing importance of men’s economic position in marriage formation. In: Waite, Linda et al. (Hrsg.): The ties that bind: Perspectives on marriage and cohabitation. New York: Aldine de Gruyter, S. 283–301.
Oppenheimer, Valerie Kincade (1982): Work and the Family. A Study in Social Demography. London: Academic Press.
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